Erzählungen in Gesprächsform werden in dem Bewusstsein gewonnen, dass Erinnerungen und Erfahrungen der Interviewten an Vergangenes subjektiv und wandelbar sind. Sie geben Aufschluss darüber, wie Vergangenheit verarbeitet und in der Erinnerung reproduziert wird. Lebensgeschichtliche Erzählungen werden dennoch als „Wirklichkeitserzählung“ bezeichnet.
Durch den Aufbau von digitalen Archivierungssystemen erhält die Zweitverwertung von Oral History-Quellen heute Bedeutung. Hierfür ist es notwendig, die Rolle der Interviewenden neu zu gewichten, denn im Oral History- Interview sind beide - die Befragten und die Interviewenden - als Produzenten der Erinnerungsquellen zu verstehen. Um die Quellen zu kontextualisieren, intersubjektiv überprüfen und einordnen zu können, braucht es eine Beschreibung der Zeitzeugenbiografie, der Interviewumstände und eine projektbezogene autobiografische Selbstauskunft der Interviewenden in der „Ego-Oral History“.
Erlebtes und Erinnerung wird dann zur „Erfahrung“, wenn der/die Erzählende es reflektiert und in einen Sinnzusammenhang stellt (Schütz und Luckmann). Es entstehen „Erfahrungssynthesen“ (Ulrike Jureit), wenn persönliche Bezüge sich mit gesellschaftlichen Systemen (z. B. Filme, Nachrichten) verweben, die individuell und kollektiv zugleich sind.
Oral History ist heute zentraler Bestandteil der Zeitgeschichtsforschung. Sie fi ndet Anwendung in den Bereichen Migrationsgeschichte, Postkolonial Studies, Geschlechter- und Sexualgeschichte, sowie in Aufarbeitungsprojekten historischen Unrechts (z.B. Heimerziehung, Missbrauch in der kath., evangel. Kirche).
Mit der Erfi ndung von Tonträgern und Aufnahmegeräten begann die Geschichte der „Oral History“. Mündlich erfragte Erinnerungen oder erzählte Geschichte aufzuzeichnen hat ihren Ursprung als historische Subdisziplin in den USA der 1940er und 1950er Jahren. Ziel und Inhalt waren zuerst Interviews mit politischen und gesellschaftlichen Eliten, um Hintergründe über politische Entscheidungsprozesse zu erhalten. Eine andere Ausrichtung erstellte Tonaufnahmen von Überlebenden der Shoa, um Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen der Zeit der deutschen nationalsozialistischen Diktatur zu dokumentieren. 1946 zeichnete der Psychologe David P. Boder erstmals Gespräche mit Überlebenden der Shoa auf Tonträger auf. Dies war der Beginn der zuerst außerakademischen Wahrnehmung der Oral History. Den Tonaufnahmen der Stimmen der Überlebenden der Shoah folgten visuelle Dokumentationen. Heute gibt es die Archivierung und Veröffentlichung von Oral History-Dokumenten über die von Steven Spielberg initiierte Shoah Foundation. Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft wird das Archivierungsprojekt Oral History Digital gefördert.
‚Oral History‘ blieb die internationale Fachbezeichnung auch im deutschsprachigen Raum, als Kulturwissenschaftler wie Lutz Niethammer (LUSIR Projekt zur Sozialkultur im Ruhrgebiet) in den 1980er Jahren die neue Forschungsperspektive aufgriffen. In den Großstädten gründeten Lokalforschende Geschichtswerkstätten, die den neuen Anspruch auf eine Geschichtsschreibung nach dem erweiterten Kulturbegriff umsetzten. Oral History Projekte beinhalten auch Recherche in Archiven neben den generierten mündlichen Quellen und umfassen das Studium relevanter Literatur. Tondokumente und visuelle Dokumente werden für die wissenschaftliche Auswertung in der Regel transkribiert. Die neuen digitalen Möglichkeiten der Speicherung ermöglichen die Anlage von großen Datenbanken mit Interviewaufzeichnungen. Die mündlichen Quellen stehen damit für die weitere wissenschaftliche Forschung zum Beispiel der Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften zur Verfügung. als „Wirklichkeitserzählung“ bezeichnet.
Dies ist der Nachruf auf einen Mann, der sich seine KZ-Nummer erst entfernen und Jahrzehnte später wieder eintätowieren ließ - mit einer scheinbar kleinen, aber in der Bedeutung großen Veränderung: Statt des Buchstabens Z, der dem vierjährigen Jungen im KZ Auschwitz eingebrannt wurde, ließ er sich im Januar 2015 ein kunstvoll geschwungenes "J" in den linken Unterarm stechen.
Nach der mündlich überlieferten Familiengeschichte war Peters Großmutter mütterlicherseits Jüdin, eine geborene "Levi". Dies wurde auch von seinen Geschwistern berichtet. Peter Höllenreiner hatte die Konzentrationslager Auschwitz, Ravensbrück, Mauthausen und Bergen-Belsen überlebt. Der Hölle entkommen, kehrt er 1945 im Alter von sechs Jahren in seine Heimatstadt München zurück. Seine Schulzeit beginnt und die Welt begegnet ihm, als wäre nichts geschehen. "Hinten, in die letzte Bank!" lautet das Schulmotto. Die Ausgrenzung ging weiter. Peter Höllenreiner und seine Familie waren als sogenannte "Zigeuner" der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt. Trotz Demokratie, einer neuen Staatsform und der Erklärung der Menschenrechte - die alten Vorurteile blieben.
Und Peter lebte im Land der ehemaligen Täter, es ist seine Heimat!
Leibnitz Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V. DOI: 10.14765/zzf.dok-2478. Archiv-Version des
ursprünglich auf dem Portal docupedia.de am 28.3.2023 erschienen Textes.
Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager.
Hamburg, 1999.
„Wir kriegen jetzt andere Zeiten.“ Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet. Bd.3 Berlin, 1985. S. 392-445. Paul Thompson, Joanna Bornat (Hg.): The Voice oft he Past. Oral History. New York, 2017 (1. Aufl . 1978). Herwart Vorländer (Hg.): Oral History. Mündlich erfragte Geschichte. Göttingen, 1990. fragte Erinnerungen oder erzählte Geschichte aufzuzeichnen hat ihren Urspru